Der Weckruf aus Karlsruhe
Kein halbes Jahr vor der Bundestagswahl verfällt die Große Koalition beim Klimaschutz in hektische Betriebsamkeit.
Der Grund ist ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts: Ende April 2021 erklärt das Bundesverfassungsgericht das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung in Teilen für verfassungswidrig. Ausgerechnet dieses Herzstück der großkoalitionären Klimapolitik erschien dem höchsten deutschen Gericht zu schwach, um die Grundrechte jüngerer Generationen zu schützen. Der Klimaschutzpfad sei viel zu diffus, um sicherzustellen, dass die anstehenden Reduktionslasten fair verteilt würden. Indem die Große Koalition mögliche Schritte im Klimaschutz in die Zukunft verschiebt, gefährde sie die Freiheit künftiger Generationen, so die Karlsruher Richter.
Bis spätestens Ende 2022 müsse nachgebessert werden.
So lange wollten sich weder SPD noch Union Zeit lassen. In
den Tagen nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts mühten sich Politiker:innen aller drei Regierungsparteien,
die Ohrfeige aus Karlsruhe in Anfeuerungsrufe umzudeuten.
In Windeseile wurden Verschärfungen von Klimazielen und schnelle Sofortmaßnahmen diskutiert, die bis vor kurzem
mit dieser Regierung noch undenkbar erschienen. Offensicht- lich will keine der Regierungsparteien mit einer Klimapolitik
in den Wahlkampf ziehen, die höchstrichterlich als verfas- sungswidrig abgestempelt wurde. Zu schmerzhaft ist vor
allem der Union ihr katastrophales Abschneiden in der Europa- wahl in Erinnerung, das zu einem großen Teil auf eine schwache Umweltpolitik zurückzuführen war. Zu eindeutig sagen die Demoskopen, dass Klimaschutz auch in der Pandemie weiterhin unter den wichtigsten Themen bei den Wählerinnen und Wähler rangiert.
Dieser Tage sehen wir, welche Wucht unterlassener Klima- schutz entwickelt. Starkregen, wie ihn der Klimawandel häufi- ger werden lässt, verwandelt plätschernde Bäche in kürzester Zeit in reißende Ströme, die ganze Ortsteile ausradieren und Existenzen zerstören. Deutsche Mittelgebirgstäler verwandeln sich in Minutenschnelle in Todesfallen. Tausende Menschen verlieren Hab und Gut, viel zu viele ihr Leben. Keine drei Mona- te vor der Wahl zeigt die Klimakrise ihre bedrohliche Kraft. Die schockierenden Bilder aus Nordrhein-Westfalen und Rhein- land-Pfalz verdeutlichen jeder und jedem: Unsere Lebens- grundlagen zu schützen ist keine Solidaritätsbekundung für weit entfernte Weltregionen, sondern Pflichtaufgabe für alle, die auch in Zukunft halbwegs unversehrt zwischen Flensburg und Garmisch leben wollen. Die Klimaflut hat nicht nur Existenzen und Leben zerstört, sondern auch ohnehin haltlose Argumenten der Klimabremser pulverisiert. Wer jetzt noch argumentiert, ambitionierter Klimaschutz dürfe nicht zu teuer sein, wer jetzt noch warnt, zu viel Klimaschutz gefährde und überfordere die deutsche Volkswirtschaft, wird mit diesen Einwänden kaum noch jemanden überzeugen können.
Die Klimakrise ist da – in Deutschland und im Wahlkampf. Noch während das Wasser in den Gassen steht ist jedem Beobachter klar: diese Wahl wird eine Klimawahl.
Aber warum müssen erst tödliche Sturzbäche durch die Städte und Dörfer rauschen, um der größten Bedrohung der Mensch- heit einen der Dramatik angemessenen Platz im Wahlkampf zu verschaffen?
Warum muss das Bundesverfassungsgericht die große Koaliti- on erst per Beschluss dazu verdonnern, damit diese das Pariser Klimaabkommen ernsthaft umsetzt?
Deutsche Klimapolitik: International hui, zuhause pfui
Kaum jemand bestreitet die wichtige Rolle, die Angela Merkel auf internationaler Bühne für den Klimaschutz gespielt hat.
Sie hat maßgeblich zum Zustandekommen des Pariser Abkom- mens beigetragen, öffentlich wiederholt auf die Dringlichkeit der Herausforderung hingewiesen und regelmäßig mehr Tempo und Ambition angemahnt. Als promovierte Physikerin sind
der Kanzlerin die Prozesse und Abläufe des Klimawandels näher als den meisten anderen Staats- und Regierungschefs. Doch die heimische Klimabilanz der vergangenen Jahre ist durchwachsen. Ein Großteil der erreichten CO2-Reduktion geht auf das Konto der zusammengebrochenen Schwerindustrie Ostdeutschlands nach der Wende. Ohne diesen Sondereffekt wäre die deutsche Klimabilanz bis heute schlicht desaströs.
Ihr selbst gestecktes Klimaziel für das Jahr 2020 hat die Bun- desregierung alleine durch die globale Pandemie erreicht. Ohne die Maßnahmen gegen Covid-19 und deren unmittelbare Folgen etwa für das Wirtschaftsleben und die Mobilität der Menschen hätte die Regierung dieses Ziel laut Analyse des eigenen Klima- rats deutlich verfehlt1. Es wäre ein weiteres verpasstes Ziel in einer lange Reihe gewesen. Denn seit die Regierung Helmut Kohls im Jahr 1990 ein erstes nationales Klimaziel beschlossen hat, hat die Bundesregierung jedes dieser Ziele verpasst.
Wieso tut sich die Regierungskoalition beim Klimaschutz so schwer, wo doch die Folgen der Klimakrise längst auch in Deutschland unübersehbar sind und nur noch wenige Jahre bleiben, um die schlimmsten Auswirkungen abzuwenden? Wieso bleibt das Ausbautempo der Erneuerbaren Energien meilenweit hinter dem zurück, was selbst zum Erreichen der schon wieder überholten Ziele für 2030 nötig wäre? Wieso lag der CO2-Ausstoß im Verkehr 2019 noch genauso hoch wie 1990? Warum werden die klimäschädlichsten Braunkohlekraft- werke nicht längst stillgelegt oder wenigstens gedrosselt?
Wer den klimapolitischen Reformstau der Bundesregierung verstehen will, muss sich eingehend mit den drei Parteien be- schäftigen, die die Bundesregierung der vergangenen Jahre
gebildet haben. Dabei zeigt sich, dass Sozialdemokraten und Unionsparteien beim Klimaschutz von grundverschiedenen Ausgangspositionen in die kommende Bundestagswahl starten.
Die SPD: Vom Kohle-Joch befreit?
Lange Jahre wurden die Sozialdemokraten förmlich zerrissen zwischen ihrem Anspruch, auch in der Umweltpolitik Fort- schrittspartei zu sein und parteiinternen Beharrungskräften, die ihren sozialdemokratischen Auftrag in falsch verstandener Fürsorge als Rettungsmission für aus der Zeit gefallene In- dustrie- und Bergbauarbeitsplätze interpretierten. Trotz des Labels „Kohlepartei“ bestand die Sozialdemokratie schon lange auch aus einem — mal mehr, mal weniger wirkmächtigen – Umweltflügel. Dieser hat nicht wenige Vordenker der deutschen Umweltpolitik hervorgebracht: Ernst-Ulrich von Weizsäcker, Hermann Scheer, Michael Müller und viele weitere. Ihnen gegenüber standen aber einflussreiche Sozialdemokraten wie etwa Sigmar Gabriel oder zuvor Gerhard Schröder, die sich kaum entscheiden konnten zwischen einer zukunftsgerichteten „ökologischen Industriepolitik“, die auch den Abschied von alten Strukturen und Wirtschaftsweisen beinhaltet und einer Nibelungentreue zu Konzernvertretern und Gewerkschaftern, die in Transformation mehr Gefahr als Chance sehen, die
lieber verharren statt zu gestalten.
Trotz dieser Zerrissenheit stand die SPD in der auslaufenden Legislatur der Großen Koalition noch am ehesten für mehr Klimaschutz. Schon bei den Koalitionsverhandlungen 2018 forderte die SPD ein Klimaschutzgesetz, einen nationalen CO2-Preis und die Einrichtung einer Kohle-Kommission. Alle drei Maßnahmen landeten gegen den Widerstand von CDU/ CSU im Koalitionsvertrag. Auch Bundesumweltministerin Svenja Schulze müht sich redlich, ihre Kolleg:innen am Kabi- nettstisch zu mehr Klimaschutz zu treiben. Von den SPD- geführten Nordländern Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Niedersachsen kommen immer wieder bundes- politische Impulse für den Ausbau der Windkraft. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die SPD den Kohleausstieg hinausgezögert hat. Das späte Ausstiegsdatum 2038 trägt auch eine sozialdemokratische Handschrift.
Mit dem nunmehr beschlossenen Kohleausstieg ist der viel- leicht größte Bremsklotz in der sozialdemokratischen Klima- politik gelöst. Innerparteilich hat die SPD wie keine andere Partei von der Lösung der Kohlefrage profitiert, da sie durch den Ausstieg ihren schwelenden inneren Konflikt befrieden und sich umweltpolitisch neu aufstellen konnte.
Die Folgen der befreiten SPD werden bereits sichtbar. Das dies- jährige Wahlprogramm liest sich klimapolitisch erstaunlich fort- schrittlich. Der Transformationsdruck vieler Branchen wird aner- kannt und eine sozialdemokratische Antwort versucht, ohne allzu viele der früheren Verrenkungen und Widersprüche aufzuwerfen.
Wie standhaft die Sozialdemokratie in ihrer schmerzhaft voll- zogenen ökologischen Modernisierung bleibt, wird vor allem die Debatte zum Klimaschutz im Verkehr zeigen. In diesem Sektor – mit seit 1990 stagnierendem CO2-Ausstoß – liegt Po- tenzial für eine neuerlich irrlichternde SPD. Schließlich geht es um nicht weniger als die Neuerfindung der Autoindustrie mit hunderttausenden Arbeitsplätzen und einem hohem gewerk- schaftlichen Organisationsgrad. Die Führungszirkel und Lobby- gruppen der Industrie streiten weiter um die richtige Antwort auf den sich beschleunigenden Abschied vom Öl und dem Ver- brennungsmotor. Es hält sich bei einigen noch immer die irrige Hoffnung, die alten, unbrauchbar gewordenen Kompetenzen und Technologien in die neue Zeit zu retten. Die Transforma- tion dieser Schlüsselbranche birgt für die SPD die Gefahr, sich erneut zu verheddern und den mühsam befriedeten Konflikt zwischen Wirtschaft und Umwelt erneut aufflammen zu las- sen. Ein entscheidender Vorteil für die SPD dürfte sein, dass sich die maßgebliche Gewerkschaft der Branche, die IG Metall, bislang konstruktiver und veränderungsbereiter zeigt, als es
die in der Kohlefrage dominierende IG BCE je war.
Auch die neue, klimabewegte SPD ist nicht frei von Wider- sprüchen. Als die Gaspipeline Nord Stream 2 durch den An- schlag auf Alexej Nawalny im vergangenen Jahr politisch auf der Kippe stand, sprang Manuela Schwesig in die Bresche.
Die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Mecklenburg- Vorpommerns, dem Bundesland, in dem die Pipeline ankom- men soll, preist das Erdgas aus Russland als nötige „Brücken- technologie“- und als Alternative zu Fracking-Gas aus den USA. Gleichzeitig bot SPD-Vizekanzler Olaf Scholz den USA Milliar- deninvestitionen in Importterminals für LNG-Flüssiggas an, wenn sie auf Sanktionen gegen Nord Stream 2 verzichten.
Die geplanten LNG-Terminals in Norddeutschland würden den USA vermehrte Exporte von Fracking-Gas ermöglichen. Doch für die Deckung des hiesigen Energiebedarfs werden weder Pipeline noch LNG-Terminals benötigt. Mehr noch: Das gelie- ferte fossile Gas würde das Erreichen der deutschen Klimaziele nahezu unmöglich machen.
Die Union: Aus „Rezo“ und Europawahl nichts gelernt?
Die Union führt seit eineinhalb Dekaden die Bundesregierung an, entsendet die meisten Minister:innen an den Kabinettstisch und stellt durchgehend die größte Bundestagsfraktion. Kurz: Seit 15 Jahren ist die Union die politisch mächtigste und ein- flussreichste Parteienfamilie des Landes. Zwar hat Bundeskanz- lerin Angela Merkel den Klimaschutz auf internationaler Bühne auf die Agenda gesetzt, viele Jahre Deutschland als Vorreiter
im internationalen Klimaschutz positioniert und sich selbst als Klimakanzlerin inszeniert – zuhause in Deutschland jedoch leuchtet der klimapolitische Stern eher blass denn hell. Die Union zeigt ein erhebliches Missverhältnis zwischen dem Set- zen von mittel- und langfristigen Zielen und schnell wirksamer politischer Maßnahme, um diese zu erreichen. Als zentraler
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Bremsklotz der deutschen Klimapolitik blockiert die Union bislang konsequent alle wirksamen Schritte zum Einsparen von CO2: einen schnellen Ausstieg aus der Kohle, den Ausbau von Wind- und Solarenergie, den Abbau klimaschädlicher Subventi- onen oder Maßnahmen zur Senkung von Emissionen im Ge- bäudesektor, im Verkehr oder der Landwirtschaft. Erklärt wird diese Blockade zumeist mit dem Einwand, Klimaschutz müsse ohne Vorgaben und Verbote, nämlich ‚marktgerecht‘ organisiert werden. Diesen Politikansatz hat das Bundesverfassungsgericht Ende April 2021 für zu wenig wirksam erklärt, eben weil es klare staatliche Vorgaben brauche, um die Freiheitsrechte nach- folgender Generationen zu sichern.
Auch CSU-Chef Markus Söder hat zumindest rhetorisch aner- kannt, dass sich Wahlen mit einer Klimapolitik zulasten der jün- geren Generationen nicht mehr gewinnen lassen. „Es reicht nicht, Umweltschutz nur als Deko zu machen“, hat er seine Partei mit Blick auf seinen Konkurrenten um die Kanzlerkandidatur, Armin Laschet, zu einem strafferen Klimakurs ermahnt.2 Doch auch Söders Klimaschutzpolitik in Bayern ist bislang bestenfalls blass- grün: Das bayerische Klimagesetz gilt vielen Klimaschützer:innen als unambitioniert, an den äußerst restriktiven Abstandsregeln für die Windenergie will Söder trotz Kritik des Koalitionspart- ners festhalten, Verbrennungsmotoren will der CSU-Chef noch bis 2035 vom Band rollen lassen und selbst danach mit ineffizi- enten synthetischen Kraftstoffen betanken lassen.3
Dabei bringt die Union mit ihrem Markenkern der Christlich- keit beste Voraussetzungen für eine ambitionierte Klimapolitik mit. Im CDU-Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2007 heißt es in der Präambel: „Nach christlichem Verständnis sind Mensch, Natur und Umwelt Schöpfung Gottes. Sie zu schützen, ist unser Auftrag. Wir wollen unseren Nachkommen eine Welt bewahren und hinterlassen, die auch morgen noch lebenswert ist.
Die nachfolgenden Generationen haben ein Recht auf wirt- schaftliche Entwicklung, sozialen Wohlstand und eine intakte Umwelt.“4 Trotz dieses christlichen Überbaus findet die Union keinen Weg, ihre Grundwerte in eine zeitgemäße Klimapolitik zu übersetzen. Denn noch immer steht der konsequenten Be- wahrung der Schöpfung oftmals der zweite Markenkern der Union im Weg: die Nähe zu bestimmten Teilen der Wirtschaft. Die in der Schöpfungsbewahrung angelegte Ökologie verkommt so zum Lippenbekenntnis. In der Tagespolitik wird sie den kurzfristigen Gewinninteressen einer knallharten Klientelpoli- tik untergeordnet. Hinter jeder nötigen Klimaschutz-Maßnahme machen Unionspolitiker:innen eine zu schützende Klientel aus, wegen der man solche Schritte lieber unterlässt. Sei es ein Vor- ziehen des Kohleausstiegs auf das Jahr 2030, ein Ende des Ver- brennungsmotors, die Abkehr von der Massentierhaltung oder ein massiv beschleunigter Ausbau der Erneuerbaren Energien.
Dabei hatte die Partei das vermeintliche Dilemma zwischen Ökonomie und Ökologie schon 1994 gelöst, zumindest auf dem Papier. Im damaligen Grundsatzprogramm heißt es: „Unsere Verantwortung für die Schöpfung muß auch unser wirtschaft- liches Handeln leiten“5. Im gleichen Jahr ließ die Regierung Helmut Kohl den Umweltschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankern. „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen“, heißt es seither in Artikel 20a. Erst das Verfassungsgericht musste die Regierung Ende April 2021 daran erinnern, dass es mit der Formulierung alleine nicht getan ist.
Dass Umwelt- und Klimaschutz für die CDU allzu oft zur Worthülse verkommt, liegt auch am Personaltableau: Während in anderen Parteien Umwelt- und Wirtschaftspolitiker um
eine gemeinsame Position ringen, hat die Unionsfraktion im Bundestag die Klimapolitik fast komplett in die Hände des Wirtschaftsflügels gelegt. Alle klimapolitisch wichtigen Posten in der Fraktion waren bis vor kurzem von diesem Flügel besetzt. Der sieht seine Aufgabe im Wesentlichen darin, klimafreundliche Positionen zu schleifen oder am besten
ganz zu verhindern. Es sind jene Wirtschaftsliberale, die im Klimaschutz vor allem Wettbewerbsnachteile sehen, solange nicht alle Staaten Europas, besser noch der ganzen Welt,
exakt die gleichen Maßnahmen umsetzen. Der Staat solle zudem möglichst wenig Regeln aufstellen und besser dort großzügig Steuermilliarden verteilen, wo einzelnen Industrien hohe Gewinne winken: bei den Entschädigungen der Kraft- werksbetreiber, bei Abwrackprämien für die Autoindustrie, beim Wasserstoff oder bei synthetischen Kraftstoffen. Die Union betreibt, kurzgefasst, eine knallharte Klientelpolitik für alte Industrien der Bundesrepublik mit ihren nicht mehr in
die Zeit passenden Technologien und Geschäftsmodellen. Kaum hingegen interessiert sich die Union für die Industrie- unternehmen der Zukunft. Sie gelten als Klientel der ‚Grünen‘. Den technologischen Vorsprung, die frühzeitige Besetzung von Zukunftsmärkten, die Exportchancen von Umwelttechno- logien – all diese Vorteile für Unternehmen eines Klimavor- reiter-Staates sehen Unionspolitiker scheinbar nicht – oder halten sie für weniger wichtig als kurzfristige Interessen.
Die Union ist weniger die Partei mit der höchsten Wirtschafts- kompetenz, sondern vielmehr der Schutzpatron der alten Indus- trie, die es vermeintlich vor der kommenden Transformation
zu schützen gelte. Diese Form der Wirtschaftspolitik schaut nicht voraus. Die Fixierung auf kurzfristige Interessen einzelner Industrien lässt die Union verkennen, dass diese oft in deutli- chem Kontrast zu den langfristigen Interessen des Wirtschafts- standorts stehen. Während die Union kaum einen Blick auf die Arbeitsplätze und Wertschöpfungspotenziale der neuen, klima-
verträglichen Industrien wie etwa der Solar- oder Windenergie- Branche wirft, überbetont sie die Bedeutung von Unternehmen, deren Produkte und Geschäftsmodelle veraltet sind und die
sich für eine CO2-neutrale Wirtschaft massiv transformieren müssen. Diese Wirtschaftspolitik durch den Rückspiegel bremst auf fatale Weise die nötige wirtschaftliche Modernisierung
und nimmt denjenigen Unternehmen Planungssicherheit, die bereits jetzt in neue Technologien investieren. Auch deshalb verliert die klimapolitische Ambivalenz der Union, rhetorisch verkleidet als Politik mit „Maß und Mitte“, zunehmend an Rückhalt in der Wirtschaft. Inzwischen überholen viele Unter- nehmen die Union in ihrer rückwärtsgewandten Klimaposition. Es sind Konzernchefs, die einen höheren CO2-Preis, einen schnelleren Ausbau der Erneuerbaren Energien und einen früheren Kohleausstieg fordern. Sie wissen, dass Klimapolitik auch eine Entscheidung im Rennen um die Spitzenposition
Umso wichtiger wäre eine personelle Neuaufstellung der Union in der Klimapolitik, zumal die Zeiten dafür gerade günstig wären. Von den zuständigen Fachpolitiker:innen sind viele im Korruptionsskandal verstrickt, der die Union seit dem Frühjahr 2021 erschüttert. Maskengeschäfte, auffällige Nebentätigkeiten und Gefälligkeiten für den Ölstaat Aserbaidschan gehören ins Repertoire von Abgeordneten wie Georg Nüßlein (CSU), Joachim Pfeiffer (CDU), Thomas Bareiß (CDU) und Axel Fischer (CDU). Sie ordnen sich dem konservativen Flügel zu, ticken „fossil“ und gehören seit Jahren zu den wesentlichen Bremsern bei Energiewende und Klimaschutz. Nüßlein, Pfeiffer und Fischer werden dem neuen Bundestag nicht mehr angehören. Gleichzeitig verliert die CDU mit Angela Merkel – trotz der offenkundigen Diskrepanz zwischen ambitionierter interna- tionaler Klimarhetorik und äußerst lückenhafter Klimapolitik hierzulande – eine wichtige Triebkraft für den Klimaschutz.
Ob den Unionsparteien ohne einen Teil der Klimaschutz- blockierer ein klimapolitischer Aufbruch unter dem neuen Parteivorsitzenden Armin Laschet gelingt, ist derzeit völlig ungewiss – allerdings deutet bislang wenig darauf hin. Das Wahlprogramm der Unionsparteien hat klimapolitisch selbst niedrige Erwartungen enttäuscht. Es beschränkt sich weit- gehend auf ferne Zielsetzungen und die vage Hoffnungen auf marktwirtschaftliche Instrumente. Inmitten der Klimakrise erscheint ein solch unambitioniertes Wahlprogramm als ris- kantes Manöver. Ob die Unionsparteien angesichts der Flut- katastrophe mit diesem Programm im Wahlkampf bestehen können, bleibt abzuwarten. Gewarnt dürfte die Partei sein: bereits bei der Europawahl 2019 übersetzte sich die Leerstelle der Union beim Klimaschutz und das fehlende Verständnis für eine vorausplanende Wirtschaftspolitik in massive Stim- menverluste. Seitdem hat die Partei immer wieder Anläufe genommen, diese Leerstelle zu schließen. Doch keiner dieser Versuche war bislang von sichtbarem Erfolg gekrönt.
Der für die Energiepolitik zuständige Wirtschaftsminister Peter Altmaier legte im September 2020 einen 20-Punkte-Plan für mehr Klimaschutz vor. Einige seiner Vorschläge ließen auch Umweltverbände aufhorchen, war der Minister zuvor doch vornehmlich als Bremser beim Klimaschutz aufgefallen. Doch nichts von diesem Plan, den Altmaier scheinbar ohne partei- und regierungsinterne Absprache im Alleingang vorlegte, wur- de seitdem in konkrete Politik übersetzt.
Zuletzt tauchten neue Gruppierungen mit ökologischem Schwer- punkt in der Union auf, mal hießen diese „Schwarze Null“,
mal „Klima-Union“. Gemeinsam war diesen Initiativen die weit- gehende Abwesenheit von zuständigen Fachpolitiker:innen und die Ferne zur Parteispitze. Sie wurden in den Niederungen der Partei von zumeist Fachfremden ersonnen. So ehrenwert und notwendig solche parteiinternen Vorstöße sind, sie wirken ange- sichts ihres Graswurzelcharakters inmitten einer so straff und hierarchisch organisierten Partei wie eine Panikreaktion der wenigen Klimabewegten oder weitsichtigeren Strategen, die die offene Flanke einer ökologischen Substanzlosigkeit vor der an- stehenden Bundestagswahl zu schließen versuchen. Nennens- werte Vorstöße zur Renovierung der eigenen Klimaprogramma- tik sind dagegen aus den oberen Etagen der Parteikader nicht ausgegangen – sieht man von Söders grüner Rhetorik mal ab.
Und so dümpelt die Partei ohne klare thematische und perso- nelle Ausrichtung durch die klimapolitische Debatte des Wahl- kampfes. Ob Söders Ergrünungskurs sich in realer Politik nie- derschlägt, ist völlig offen. Angesichts seines Festhaltens an rigiden Abstandsregeln für Windräder sind Zweifel angebracht. Ob Armin Laschet die diskursive Wucht der Klimaflut in Gänze verstanden hat, erscheint fraglich. In einem der ersten Inter- views nach der Hochwasser-Katastrophe blafft er die Journalis- tin an: „Weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik.“ Ein Satz, der Laschet im Wahlkampf noch wie ein Mühlstein um den Hals hängen dürfte. Bislang bemühte Laschet auffällig oft das Bild von der notwendigen Versöhnung von Ökologie und Ökonomie – eine Argumentation, die angesichts der Milli- ardenschäden und des Leids kaum noch tragen dürfte. Auch seine bisherige Ablehnung fast aller wirksamen Maßnahmen beim Klimaschutz – wie einen schnelleren Kohleausstieg oder das Ende der Subventionen für Flugbenzin – dürfte kaum zu halten sein6. Laschets Klimakurs, der sich bislang als Reminis- zenz an den CDU-Wirtschaftsflügel las, auf dessen Unterstüt- zung Laschet nach seiner holprigen Ernennung zum Kanzler- kandidaten angewiesen ist, wird in den verbleibenden Wochen des Wahlkampfes einen schweren Stand haben. Was die deut- sche Verfassung von diesem Klimakurs hält, ist inzwischen bekannt, was die Wähler:innen angesichts der massiven Flut- schäden davon halten, wissen wir erst im Herbst diesen Jahres.